Asperger und Hochsensibilität in der Familie

Wer mich kennt, weiß schon: wir leben ein ungewöhnliches Familienleben.

Zwei Menschen mit dem Asperger Syndrom und zwei Hochsensible vereinen sich in unserer Familie. Viele Ähnlichkeiten in den Bedürfnissen, Überschneidungen in der besonderen Wahrnehmung, aber auch einige große Unterschiede, besonders in den Persönlichkeiten ;-), vereinen sich unter unserem Dach.

„Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Hochsensibilität und Autismus? Oder ähnelt sich das vielleicht auch?“ Diese Fragen bekomme ich häufiger gestellt und ich versuche mal mich einigen Aspekten zu nähern. Das kann ich zum einen aus meinem persönlichen Blickwinkel tun, als Mutter und Ehefrau, und aus meinem Berufserfahrungsblickwinkel in der Arbeit mit neurodiversen Menschen.

 

Ich möchte hier keinesfalls generalisieren, sondern bediene mich lediglich der gängigen Begrifflichkeiten, um eine Einordnung zu etablieren. Jeder Mensch ist für mich besonders einzigartig in seinem eigenen So-Sein.

      

Viel zu viele Reize werden wahrgenommen

Meiner Erfahrung nach gleicht sich die Wahrnehmung der Sinnesreize sehr stark in beiden Bereichen. Informationen die nicht alle zeitnah verarbeitet werden können, führen zu einer Reizüberflutung. Während Hochsensible einfach Verarbeitungszeit benötigen in Form von allein verbrachter Zeit, in ruhiger Umgebung mit Dingen oder an Orten die gut tun, um Eindrücke zu verdauen, benötigen Menschen aus dem Autismus Spektrum in aller Regel dafür mindestens die doppelte Zeit und können darauf weniger Einfluss nehmen, um diesen Vorgang zu beschleunigen. Außerdem haben sie nicht immer die Möglichkeit die Überreizung zeitnah wahrzunehmen. Was dann zu impulshaften Entladungen führen kann und häufig in sozialen Kontexten zu Herausforderungen und starken Orientierungsverlust und der Unfähigkeit zu Handeln einhergehen kann. Die gemachten Erfahrungen sind dann so überwältigend, dass keine Sortierung und Abbau mehr stattfinden kann. Dieser sogenannte Overload kann dann in einen Meltdown führen, ein scheinbar grundloses „Ausflippen“ mit Wutanfällen, Aggression, schlagen, kratzen, spucken, Selbstverletzung oder totales „ausschalten“ der Umgebung. Das sind Schutzreaktionen des Körpers.

Manche Menschen zeigen vorher Anzeichen in Form von Unruhe, Ohren zuhalten, Aufsagen von Reimen oder Singen, Schaukeln, hin und her drehen von Dingen. Das Nervensystem macht so den Versuch einer Regulierung.

Ein weiteres Problem kann die sensorische Unterempfindlichkeit darstellen, die paradoxerweise zusammen mit der Überempfindlichkeit in einer Person in unterschiedlichen Bereichen vorhanden sein kann oder ist. 

 

Für Hochsensible ist die Überreizung ebenfalls unschön und sehr turbulent fürs Nervensystem, kann aber bei integrierter Hochsensibilität gut aktiv austariert werden.

Hier macht sich die Überreizung durch Unruhe sowie diverse körperliche Sprache sichtbar: zittern, wärme, erröten, weinen, Kopfschmerzen, motorische Ungeschicklichkeit oder ein "Aufziehmännchen-Gefühl" oder, oder, oder bemerkbar. Häufig erleben sich hochsensible Personen als Handlungskompetent, sobald sie sich gut in ihren Grenzen kennengelernt und respektiert haben und Techniken erlernen ihr hoch erregbares Nervensystem zu bändigen. Die Unterempfindlichkeit kommt bei Hochsensiblen nicht vor.

    

Sich als "Anders" wahrnehmen und eine Abneigung gegen Smalltalk

Das Gefühl des sich als „fremd“ Empfindens und sich nicht zugehörig fühlen, eint beide Typen.

 

Hochsensible spüren oft "das Problem hinter dem Problem“, fühlen sich stark in andere ein und nehmen kleinste Unstimmigkeiten in Gesagtem und Körpersprache war – sie lesen die Menschen auf sehr subtile Art und Weise. Sie haben eine große Sehnsucht nach Tiefe in Gesprächen und mögen deshalb oft keinen Smalltalk. Viele können Smalltalk sprechen, wie eine Fremdsprache, fühlen sich aber darin nicht gesehen, erfasst und verstanden, haben viele Emotionen und Eindrücke gesammelt, die aber keine Entsprechung finden und wiederum verarbeitet werden müssen. Das Folgen von Gesprächen in Gruppen kann sehr anstrengend und herausfordernd sein - aufgrund des Zuviels an Emotionen und Eindrücken.

 

Ein Mensch auf dem autistischen Spektrum hat oft Schwierigkeiten sich in Gruppen zu orientieren, kann Menschen nur verstehen, wenn sie klar und ohne Ironie oder Sprichworte sprechen und finden viele Gespräche nicht zielführend oder unlogisch bis absurd. Er hat die Möglichkeit Smalltalk zu lernen, findet es aber oft überfordernd und hat Schwierigkeiten die Gesichtsausdrücke zu deuten. Außerdem kann es in großen Gruppen schwierig sein, den Gesprächen zu folgen, da die Stimmen herausgefiltert werden müssen. Auch der richtige Zeitpunkt zu sprechen und sich nicht in einen Dialog über das eigene Thema zu verlieren kann herausfordern. Diese Faktoren führen zu einem hohen Maß an Verunsicherung und fehlender Orientierung.

 

In beiden Gruppen ist die Gefahr der sozialen Selbstisolation groß, weil vielleicht der Wunsch nach einer Vorbeugung zur Reizüberflutung höher steht, als der Wunsch mit anderen in Kontakt zu gehen.

    

Empathie - unterscheidet sich

Hochsensible Menschen verfügen über eine ausgeprägte Empathie. Das Mitfühlen kann so weit gehen, dass eigene Empfindungen nicht von den anderer getrennt empfunden werden können. Daher ist es besonders wichtig bei sich bleiben zu können und sich seiner eignen Grenzen (körperlich und emotional) bewusst zu sein. Sie schwingen stark mit anderen Menschen und  leiden überdurchschnittlich mit anderen, können sich aber auch stark mit anderen freuen. Da die Emotionen so tief, stark und bewusst empfunden werden, hallen diese lange nach. 

Asperger-Menschen können ein Mitfühlen erlernen und sich aneignen - also eine kognitive Empathie. Es ist aber mehr über den Kopf iniziiert und unterliegt oft der Erwartungshaltung von neurotypischen Menschen. Zum Beispiel wenn jemand weint, bringe ich ein Taschentuch. Da das Lesen und Deuten von Emotionen, Aussagen und Gesichtsausdrücken so schwer fällt, fehlt es manchmal am richtigen Timing die passenden Worte zu finden. Das lymbische System ist anders mit dem präfontalem Cortex verbunden, was zu dieser Schwierigkeit führt. 

Die eigene Emotion wird durchaus wahrgenommen, aber auch der sofort lesbare Ausdruck im Gesicht erfordert Anstrengung. 

 

Oder die Emotionen kommen in einem „Wollknäuel“ so stark bei der Person an, dass sie überflutend wirken. Dann ist die Beschäftigung damit so groß, dass die Hinwendung zur betroffenen Person nicht möglich ist und die Situation verlassen werden muss oder zur Starre führt. Das Thema Empathie bleibt, bei allen Lerneffekten, lebenslang eine Herausforderung. Klare, offene und wertschätzende Kommunikation in unklaren Situationen ist eine große Hilfestellung (und Wertschätzung) für alle Beteiligten.

      

Negatives Selbstbild

Beide Gruppen leiden häufig unter einem negativen Selbstbild. Das liegt oft an Mitteilungen und Rückmeldungen aus dem Außen. Die Übermittlung des Gefühls falsch zu sein und sich doch anzupassen zu wollen, um in Verbindung mit anderen Menschen zu sein, ist eine große Gemeinsamkeit.

Bei Hochsensiblen kann durch die Selbstakzeptanz und die Integration der Sensibilität ein Entwicklungsschritt stattfinden der zur Neubewertung einlädt. So kann in Schritten eine positive emotionale Besetzung schrittweise ermöglicht sein. In diesem Integrationsprozess, insbesondere bei neuer Erkenntnis der eigenen Sensibilität, kann ein Coaching sehr hilfreich sein.

 

Für Menschen im autistischen Spektrum ist der Weg oft länger. Durch ein Selbstwerttraining können positive Ergebnisse erreicht werden. Doch die positive Rückmeldung und Wirkung im Selbst haben oft einen schwereren Weg, da die Spiegelneuronen anders funktionieren und positive Emotionen es in ihrer Wirkung schwerer haben, nachhaltig anzukommen und zu wirken. Persönlichkeitsentwicklung und Coaching bieten die Chance in eine stabile Identität, die mit Stolz und Selbstbewusstein belebt ist, zu kommen.

      

Der sechste Sinn

Der sogenannte“ sechste Sinn“, der Sinn für Emotionen und Stimmungen im Raum, ist bei beiden ausgeprägt.

 

Geübte Hochsensible können diese Emotionen zuordnen und „durchfließen“ lassen. So, dass zwar „gearbeitet“ wird, was zu schnellerer Erschöpfung führen kann, stellt aber mit Bewusstseinsarbeit ein zu bewältigendes Problem dar. Durch Entwicklung entsprechender Strategien im Umgang sind diese Situationen und Eindrücke händelbar.

 

Die Menschen aus dem autistischen Spektrum sind ebenfalls häufig mit diesem Sinn ausgestattet. Allerdings prasseln die Informationen ungefiltert auf sie ein und sind häufig in der Situation nicht sortierbar. Hier ist „Sortierhilfe“ erforderlich, um Zuordnung zu ermöglichen und in der Meta-Ebene eine Handlung daraus abzuleiten zu können.

 

Egal wie besonders sensibel, sinnesempfindsam, individuell oder autistisch jemand ist, die Herausforderungen sind die gleichen. Die Ausprägung und der Leidensdruck werden durch die eigene Brille wahrgenommen. Je nach Bewältigungsstrategien, Wissensstand, Weiterentwicklungsdrang und Erfahrungen fallen die Folgen bei Außenstehenden vielleicht kaum noch auf.

 

Für uns Vier kann ich sagen, dass unsere Kommunikation zu Hause sehr besonders ist. Das ist zumindest die Rückmeldung, die ich häufig zu unserer Familie bekomme. Es geht recht emotional bei uns zu und jeder lernt seine Grenzen, Bedürfnisse und Wünsche zu vertreten. Jeder ist aufgefordert zu üben und gut für sich zu sorgen. Missverständnisse sind bei uns an der Tagesordnung, aber das bringt uns eben in Kontakt: mit uns selbst und miteinander. Denn alles muss geklärt werden, bis jeder jeden verstanden hat. Das führt dazu, dass unsere Kinder gut in der Lage sind ihre Emotionen zu vertreten – jeder darf und soll das in seinem Tempo und Rhythmus machen dürfen. Es führt zu Bewusstheit und Entschleunigung. Es ist nicht immer leicht und nicht immer sind alle mit den Ergebnissen zufrieden – aber so ist das Leben eben: Lebendig, bunt und immer für eine Überraschung gut – Langweilig wird es bei uns jedenfalls nie! :-)