Zwei Seiten der selben Sache

Ich bin unterwegs auf einem meiner zahlreichen Spaziergänge. Der junge Abend dämmert und ich laufe an meiner geliebten Weser entlang. Die Hitze simmert unerbittlich bei ungewohnten 34 Grad Celsius Außentemperatur und tropischen Nächten. Ich schwitze – schon seit Tagen. Diese heftigen Temperaturen machen meinem Körper zu schaffen, alles ist nur ein „halbes Leben“ – ab Mittag geht einfach nicht mehr viel und ich werde in den Schongang gezwungen. Ich bleibe dann zu Hause und halte mich in abgedunkelten Räumen auf. Zum Glück haben wir Sommerferien und das geht.

 

Ich merke mein ganzes System ist runter gefahren und meine Dünnhäutigkeit ist voll entfaltet. Alles ist näher, greller, stärker: Körperempfindungen, Energien und Stimmungen anderer, treffen mich stärker als sonst. Ich habe einen hochsensiblen Hochsensiblen-Tag. Alle hochsensiblen Menschen kennen diese besonders empfindsamen Tage: leichtes unterschwelliges Pochen im Kopf, ein bisschen wie in Watte eingepackt zu sein, die Hitze brennt auf der Haut. Eindrücke lassen sich noch schwerer verdauen, ich habe das Gefühl mir selbst beim langsamen Denken zuschauen zu können und eigentlich ist mir alles zuviel. Ohne Sonnenbrille und Kopfhörer-Musik kann ich kaum draußen sein. Doch ich möchte den etwas kühleren Abend genießen und die fehlende Bewegung vom Tag nachholen.

 

An diesem Abend scheinen viele Leute irgendwie gereizt zu sein und ich spüre es ohne Umwege, schon meilenweit vor dem tatsächlichen Kontakt. Radfahrer heizen über den St. Pauli-Deich und der enge Weg zwingt mich zu Wachsamkeit. So anstrengend sollte der Spaziergang eigentlich nicht werden. Als Krönung klingelt mich ein Rennradfahrer aus ordentlicher Entfernung aus dem Weg. Richtig laut und für mich unüberhörbar aggressiv – ich bin angekratzt und rufe ihm zu: „Hey, bitte! Da ist doch genug Platz“. Er heizt an mir vorbei und ruft: „ Das ist zu schmal, du Arschloch!“ – wusch weg ist er.

 

Erschrocken und verärgert lässt er mich in einer fetten Staubwolke auf dem sandigen Weg zurück. Ich spüre wie meine Stirn in Falten liegt, die Nackenmuskeln, vom Schultern hochziehen, verspannen und eine Wut sich in mir hocharbeitet. Unverständnis mischt sich über so wenig Wahrnehmung für andere. Und ich erwische mich bei dem Gedanken, dass die Hitze schon reicht, da brauch ich nicht noch so ein Theater….

 

Ich stoppe innerlich. Ich lausche kurz der Stille in mir und konzentriere mich auf den Weg der vor mir liegt. Vielleicht war der rasende Radler einfach auch vom Wetter angestachelt? Vielleicht haben ihm heute schon viele keinen Raum gelassen, so dass er ihn sich wütend nehmen muss?  Was auch immer…

 

Ich sammle meine Kraft und entscheide mich bewusst, dass ich seine Stimmung nicht übernehmen möchte. Ich beruhige mich bei dem Gedanken, dass ich im Gegenzug auch viele nette, freundliche und zugewandte Menschen erlebe. Ich setze meinen Spaziergang fort.

 

In Sichtweite komme ich an eine Stelle, wo der Radweg durch eine Baustelle versperrt ist. Ich gehe weiter, mir kommt ein Radfahrer entgegen der dann natürlich ausweichen muss und mir unmittelbar auf dem schmalen Fußweg entgegen kommt. Er lächelt mich warm und freundlich an – ich mache einen Schritt zur Seite und und wir bewegen uns langsam aneinander vorbei. Er sagt in einem fröhlichen Sing Sang:“Dankeschön!“ 

 – Wir haben einander geachtet und uns Raum gegeben.

Ich freue mich im Stillen über diese menschenfreundliche Begegnung und genieße den Rest meines sommerschwülen Spaziergangs, der mich nun doch entspannt und mit einem Lächeln zurück lässt.