Ich bin genauso seltsam wie Du

Hochsensibilität – was sie für mich im Alltag bedeutet.

 

 

 

Hochsensibilität – Definition aus Wikipedia

 

"Die Bandbreite möglicher Erscheinungsformen von Hochsensibilität wird als sehr groß dargestellt. Je nach individueller Ausprägung der Hochsensibilität sollen praktisch alle Arten von Sinneseindrücken stärker und damit detaillierter wahrgenommen werden können; häufig wird auch von höherer Intensität des Empfindens von Stimmungen der Mitmenschen berichtet. Intellektuell erfahre man sich zum Teil als intensiver und gründlicher analysierend, mit einer Neigung zur Spiritualität.
Hochsensibilität wird nicht als einheitliches Merkmal verstanden, sondern dahingehend interpretiert, dass es verstärkt in unterschiedlichen Bereichen (sensorisch, emotional, kognitiv) und verschiedenen Ausprägungen auftritt. Viele hochsensible Menschen sind Mischtypen, bei denen eine erhöhte Sensibilität in mehr als einem Bereich auftritt." (Quelle: www.Wikipedia.de)

 

 

Diese Erklärung klingt sehr wissenschaftlich und erklärt nüchtern, was für mich persönlich sehr lebendig und in vielen Facetten erscheint - mit Herausforderungen und Geschenken darin.

 

Ja, ich nehme detaillierter, tiefgehender und stärker wahr – das glaube ich jedenfalls. Denn wie soll man denn Wahrnehmung und persönliche Empfindungen vergleichen können? Das finde ich genauso schwierig, als auch interessant zu beantworten.

 

Ich kann sagen, dass ich erstaunt war, in dem Moment als mir klar wurde, dass so tief, stark und lebendig wie ich fühle, nicht jeder empfindet. Ich denke als ich das zum ersten Mal verstand, war ich vielleicht geschätzte zehn Jahre alt. Gemerkt, dass ich „anders bin“ hatte ich bereits vorher – oft in für mich verletzenden Situationen.

 

Ich war ein sensibles Kind, das viel weinte und oft zu hören bekam „ich solle mich nicht so anstellen oder mich zusammenreißen“. Ich war die „Heulsuse“ und traute mir wenig zu. Immer ein wenig ängstlich. Wenn ich mich sicher fühlte, im vertrauten Umfeld, redete und phantasierte ich viel und philosophierte über das Leben. Sobald ich lesen konnte, las ich viel und gerne und flüchtete in meine Geschichten. Da war ich glücklich und sicher.

 

Für alles brauchte ich ein wenig länger, auch wenn ich schnell verstehen und aufnehmen konnte. So wollte ich doch jeden Aspekt eines Themas bedenken. In Gruppen fügte ich mich nach längerer Aufwärmphase irgendwie ein und doch fühlte ich mich immer ein wenig mehr außen. Es gab gefühlte Unterschiede. Doch um jeden Preis wollte ich dazu gehören und ging immer wieder über meine Grenzen hinaus.

 

Mit dem Erwachsen werden merkte ich, dass ich es zum Beispiel nicht so lange in einer Disco aushalten konnte: zu viel (bewegtes Licht, viel zu laute Musik, zu viele Menschen, viel zu warm und so gar nicht meine bevorzugte Uhrzeit um Auszugehen), also gab ich beim Tanzen alles und feierte intensiv und voller Freude mit meinen Freunden und ging meistens bereits um 2 Uhr nachts. Und das ohne einen Tropfen Alkohol getrunken zu haben – auf den reagiere ich nämlich, auch in kleinen Mengen, sehr stark.  Zu dem Zeitpunkt war mir bereits so schummerig zu mute, dass ich längst überreizt war und nicht mehr schlafen konnte, trotz totaler Erschöpfung. So lag ich dann wach im Bett und lag noch lange wach, ehe ich den Dreh zum Schlafen bekam. Die nächsten zwei Tage stand ich dann neben mir, wie verkatert und brauchte Zeit zum Verarbeiten und erholen.

 

 

Überreizung – ein Wort, dass ich damals nicht kannte. Ich konnte also keinem meiner Freunde erklären, was mit mir los war, da ich es selbst nicht verstehen konnte. Das verführte mich zu Ausreden, um nicht immer mit feiern gehen zu müssen. Danach fühlte ich mich schlecht, weil ich nicht ehrlich war. Ich merkte nur: mit mir stimmte etwas nicht. Ich war anders. Oft wurde ich aufgezogen, weil ich immer die erste war die eine Party verlies oder sogar manchmal an Ort und Stelle vollkommen erschöpft einschlief. Also mied ich Verabredungen oder versuchte weite Abstände entstehen zu lassen.

 

Ich regte mich schnell und stark auf, wenn jemand mich abwies, ungerecht zu mir war oder Streit im Freundeskreis entstand. Ich „zog mir alles rein“, wie mein Vater zu mir sagte, der, wie ich vermute, selbst hochsensibel war.

 

Mit dem Eintritt ins Arbeitsleben, einer Ausbildung im medizinischen Bereich, merkte ich dass ich immer häufiger krank wurde – die Geschichten der Patienten gingen mir wahnsinnig zu Herzen, mein Chef ein Arzt war sehr perfektionistisch veranlagt und bürdete mir viel Verantwortung auf, mein hoher Anspruch an mich selbst sowie der Stress in der Praxis und die langen Arbeitstage plus Berufsschule – das alles war Zuviel.

 

Ich war am Rande meiner Kräfte angelangt.  Die Ausbildung schaffte ich zwar mit Ach und Krach, aber ich war nach drei Jahren Ausbildung ausgelaugt und unglücklich. Hinzu kam,  dass ich als junge Auszubildende allein wohnte und für alles selbst verantwortlich war. Ich war im Prinzip ständig krank. Meine Nasennebenhöhlen waren dauerhaft entzündet und blieben es die nächsten Jahre auch. Ich hatte sprichwörtlich "die Nase voll".

 

Andererseits meine Beziehung zu meinem damaligen Freund Michael, mein kleiner aber feiner Freundeskreis, den ich total liebte und das Schreiben von Gedichten ließen mein Herz erblühen. Mein Leben war lebenswert und ich war immer ein neugieriger Mensch. Ich hatte intensive Freundschaften und wurde gebraucht. Meine vielfältigen Interessensgebiete ließen niemals Langeweile aufkommen. Mein fester Rahmen gab mir Halt.

 

 

 

Mit dem Leben, dass ich mir nach meiner Ausbildung in der Kleinstadt in Bremen aufbaute, lernte ich mehr Menschen kennen. Unterschiedliche Stationen wie eine Arbeit im Verkauf, im medizinischen Bereich, nebenbei Babysitterin brachten mich zu dem Entschluß eine pädagogische Ausbildung zu beginnen. 

 

Ich lernte mich besser kennen und bemerkte immer wieder Unterschiede zwischen mir und der Außenwelt. Ich taumelte ziellos durch mein Leben und doch irgendwie gradlinig. Immer wieder startete ich neue Projekte, brachte gefühlt nichts zu Ende. Heute weiß ich, dass ich eine Scannerpersönlichkeit habe und daher schnell die Interessensgebiete verstehen und durchdringen kann und dann schnell ein neues Thema benötige. Ich baue meine eigenen, stimmigen Strukturen auf und komme dann zu vernetzten Lösungen und anders als die meisten ans Ziel. Es hat Zeit gebraucht das anzuerkennen. 

 

Ich brauche meinen Schlaf, mindestens 7,5 Stunden, regelmäßiges Essen (heute weiß ich Unterzuckerung führt zu innerer Unruhe), sonst werde ich fahrig und unkonzentriert, mein harmonisches zu Hause und keinen Vollzeitjob, wie ich mit der Zeit lernte. All das registrierte ich, konnte es aber nur schlecht in mein Leben integrieren und mich selbst akzeptieren. Noch dazu war es mir unangenehm diese Bedürfnisse in meinem Umfeld zu äußern. Ich wollte nicht als "Weichei" gelten. Mein eigener Anspruch stand mir im Weg...

 

 

Manchmal empfand ich so tief, zum Beispiel wenn ich einem Geige spielenden Straßen Musiker lauschen konnte, dass es mich zu Tränen rührte, der Blick über die Weser im Sonnenuntergang oder ganz schlicht eine Wiedersehens-Szene am Bahnhof - einerseits. Aber auch tiefe Erschöpfung nach einem langen Arbeitstag, völlige Verstörung nach einem Streit,  der oft tagelang in meinem Kopf nachhallte oder eine unsanft geäußerte Kritik an mich, die mich manchmal wochenlang beschäftigen konnte.  Ich kam mir manchmal vor wie von einem anderen Planeten, wenn Menschen nach Feierabend die Stadt stürmten und erfreut shoppen gingen – wollte ich nur eines: schnell weg. Zu viele Emotionen (die nicht meine waren), zu viele Eindrücke stürmten auf mich ein, die ich unmöglich nach einem Arbeitstag verarbeiten konnte.

 

Stimmungen in Räumen und Gefühle anderer Personen konnte ich oft spüren. Ich sorgte für andere ohne, dass sie es je gefordert hätten. Ich gab unheimlich viel - ohne je etwas zurück zu verlangen. Meine eigenen Bedürfnisse nahm ich dabei nicht wahr und ernst. 

 

Anderseits war und bin ich gesuchter Ansprechpartner für Probleme und Gefühle, die es einzuordnen gilt. Ich werde geschätzt als Impulsgeber und mitfühlende Freundin. Das tue ich von Herzen gerne und bin glücklich, wenn ich tun darf was mir entspricht. Ich glaube an eine tiefe Verbundenheit, das alles wieder zusammenfließt – ein spiralförmiges Weltbild. Nichts endet je wirklich. Ich bin gehalten und mir wird nichts geschehen, mit dem ich nicht fertig werden kann...

 

 

Anfang 2018 las ich dann zum ersten Mal von Hochsensibilität.

 

Mein erstes Buch von Elaine Aron, las ich wie im Rausch. Nach einigen Seiten glaubte ich, sie schreibt da von mir. Bis ich es zum ersten Mal benennen konnte: Ich bin Hochsensibel. Das habe ich in intensiven Gesprächen mit meinem besten Freund reflektieren können.

 

Eine unglaubliche Erkenntnis. Lebensverändernd. Endlich konnte ich verstehen und mich besser akzeptieren. Ich hatte plötzlich Worte für all das. Meine Selbstakzeptanz ist seit dem stetig im Wachstum und ich schaffe es besser für mich zu sorgen.

 

Die endlich (auch gefühlt) integrierte Erkenntnis zog nach sich, dass die Sehnsucht, die ich gefühlt mein ganz Leben lang verfolgte, nun endlich einen wunderbaren Rahmen gefunden hat: Für andere da sein und sie durch Krisen begleiten und einzuladen selbstwirksamer Architekt des eigenen Lebens zu sein: Die zerbrochenen Anteile wieder in eine Verbindung zu führen – die eigenen Möglichkeiten wertschätzend anzuerkennen und zu nutzen.
Ich bin als Coach und Fachberaterin für Hochsensibilität tätig.

 

 

Ja, Hochsensibilität ist eine komplexe Sache. Für mich ein großer Teil meines Erlebens –

 

Doch die Geschichte schreibe ich.

Hochsensibilität bringt mich zu einem Leben nach eigenen Maßstäben und fordert mich heraus. An jedem Tag – weil ich anders belastbar bin und gut auf meine Ressourcen achten muss, aber sie lässt mich auch tief fühlen, weit denken und gut reflektieren und sorgt für stetige Weiterentwicklung und das liebe ich…

 

 

 

 

 

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Kommentare: 6
  • #1

    Dagmar (Freitag, 27 September 2019 18:08)

    Da weiß ich gar nicht, was ich sagen soll. Ich bin tief berührt! Einerseits, weil du es geschafft hast
    dein"Anderssein" zu nutzen, andere hochsensible Menschen zu unterstützen, aber auch, weil ich unendlich viele Parallelen entdeckt habe. Irgendwie beruhigt mich das. Danke dafür! Schön, dass es dich gibt!!!

  • #2

    Maria (Freitag, 27 September 2019 20:57)

    Liebe Bianca,

    Ich bin so dankbar, dass ich dich durch diesen Weg kennengelernt habe! Alles was du schreibst kann ich genauso verstehen und fühlen, als wie es für mich geschrieben wäre. Ich finde es toll, dass du dir die schwierige, aber tolle und wichtige Aufgabe genommen hast, Hochsensibilität sichtbar zu machen. In der kurzen Zeit, die ich dir kennengelernt habe, hast du mir herrvorragend geholfen.

    Danke, dass du deine Geschichte mitgeteilt hast!Ich kann es nicht genugend ausdrucken, wie ich mit deiner Geschichte identifiziert gefühlt habe.

    Ich bin gespannt zu lesen alles was du über Hochsensibilität schreibst :)

    Liebe Grüße,
    Maria

  • #3

    Desta (Samstag, 28 September 2019 10:25)

    Liebe Bianca,
    toll dass du nun nach langen aufwühlenden JAHREN deinen WEG gefunden hast.. Und nun wie NEUGEBOREN dein zukünftiges LEBEN.. Erleben, füllen und begreifen Kannst..und dadurch sehr vielen MENSCHEN helfen kannst.. Klasse.
    Ich bin stolz auf dich..
    Bis bald mal wieder..

  • #4

    Fabian (Sonntag, 29 September 2019 09:06)

    Eine sehr hilfreicher und toll zusammengefasster Blog,der sehr schöne Übergänge hat.Sowohl inhaltlich als auch äußerlich aus mehreren Perspektiven sehr gut dargestellt.Außer-
    dem sehr verständlich.Es würde auch noch die "Scanner Persönlichkeit"erwä-hnt.

  • #5

    Ute (Samstag, 05 Oktober 2019 09:18)

    Liebe Bianca,

    danke für das Teilen Deiner persönlichen Lebensreise, die für hochsensible Menschen sehr wertvoll ist! Ich finde es schön, dass wir ein Stück des Weges gemeinsam gehen durften und freue mich auf weitere spannende Blockbeiträge von Dir!
    Ein Herz für Dich!

  • #6

    Karina (Donnerstag, 17 Oktober 2019 13:57)

    Etwas unscheinbar lernte ich dich in den ersten Tagen unserer Ausbildung kennen. Ich ahnte nicht, welch wunder-voller Schatz in dir schlummert. Umso beglückender, dass wir uns ebenso nonverbal verstehen, ergänzen, mitfühlen, bereichern und einfach wir sein dürfen. Wie wunderbar, dass sich unsere Wege berührten und wir ein Stück gemeinsam gehen. In tiefer Verbundenheit und Wertschätzung, Karina, Rügen