Von Übergängen

 

So langsam kommt er näher, der Übergang in das neue Jahr.

 

Wie für mich typisch, fange ich bereits seit ein paar Wochen an, Dinge loszulassen. Ich lasse in mir das Jahr 2020 Revue passieren. Ich sortiere Sachen aus, ich verabschiede was nicht mehr zu mir passt. Dieses besondere Pandemie-Jahr hat uns sicher mehr zu Veränderung und Flexibilität aufgefordert, als es dem einen oder anderen lieb war.

 

Für mich persönlich war das Jahr 2020 ein Jahr es (Aus-) Sortierens, neu Aufbauens und dazu Lernens. Im Verhältnis deutlich mehr als in den Vorjahren.

 

Unsere Lebensgewohnheiten, unsere Arbeitsbedingungen und Beziehungen sind in Frage gestellt worden. Covid rüttelt an unserer Existenz. Alles ist in Bewegung geraten. In Zeiten von Corona, einem viel stärkeren Konfrontiert sein mit unseren eigenen Lebenssituationen – besonders in Lockdown-Zeiten oder Quarantäne, bekommen wir einen anderen Blick auf unsere Beziehungen. Für viele war und ist es auch ein Anfang. In meinem Umfeld kündigen sich gerade einige Babys an und ich sehe mit Freude den neuen Lebensanfängen entgegen. Und zu einem Neuanfang gehört eben auch Abschied – das sind die zwei Seiten der (Lebens-) Medaille.

 

 

Wir hinterfragen in dieser Zeit anders und schauen hin und das betrifft auch die Kontinuität unserer Paarbeziehungen, die bereits vor dem Virus in Fluss geraten sind – vor, während und nach der Ehe. Dabei soll doch gerade die Ehe als Prototyp einer beständigen Beziehung gelten, ohne weitere Übergänge nach dem einen großen Übergang: dem Eheversprechen.

 

Die bestehenden Vorstellungen von Liebe zielen klar auf eine Dauerbeziehung fürs Leben hin, wie es in einer vorgegebenen Direktheit vor allem in Romcoms  in Hollywood-Romantik zelebriert wird.   

 

Jede Trennung ist scheinbar ein sozialer Beleg des persönlichen Scheiterns und zerstörter Hoffnungen auf eine „gute Zukunft“. Ganz offensichtlich gehört der Übergang vom Zustand einer bestehenden Beziehung in den einer Nicht-Mehr-Beziehung zu den größten emotionalen Torturen, denen die Menschen in dieser Gesellschaft ausgesetzt zu sein scheinen. Wobei es nur bedingt einen Unterschied zu machen scheint, ob der neue Beziehungsstatus von einer der Beteiligten herbeigeführt wurde oder auf der reflektierten und prozesshaften Einsicht zweier Menschen beruht.

 

 

Eine Frage, die sich mir stellt wäre, da die Übergänge fließender geworden sind, ob wir eine neue Kultur des Abschiednehmens herausbilden sollten? Das Trennung und Neuanfang in Beziehung nicht mehr als (system-)fremdes Element eines auf Ewigkeit basierenden konstruierten Ehe- und Beziehungsversprechens auftritt, sondern als Normalerscheinung einer generell  sich verändernden Gesellschaft. Da ich Wandel als etwas natürliches begreife, sage ich: "Ja, wir sollten." Da gilt es vielleicht nicht einfach nur das Alte „loslassen“ zu können zugunsten des Übergangs in das Neue, das für sich genommen als das „Bessere“ erscheint, sondern im Gegenteil mindestens ebenso oft den Übergang in etwas Schlechteres möglichst zu verhindern.

 

Kommt es nicht auch darauf an, an bestimmten Dingen festzuhalten? – etwa an den natürlichen Grundlagen unserer Existenz – dem Eltern-Sein.  Dazu gehört für mich wesentlich die gegenseitige Verantwortung im Miteinander als Menschen oder als Eltern und Familie. Wir sind aufgefordert den Mut zu zeigen Familie neu zu denken. Alte Meinungen loszulassen und näher an unserem eigentlichen Selbst und unserer Lebensrealität zu leben.

 

Heißt das ich hätte damit den Glauben an die Liebe verloren? Nein! Bei weitem nicht. Aber Liebe zeigt sich in so vielen unterschiedlichen Formen, Facetten und Farben, dass wir aufmerksam sein dürfen für das was bereits da ist und nur gesehen werden möchte. Und da darf auch die Echtheit nicht zu kurz kommen: zu sich stehen zu dürfen, ehrlich zu sein mit sich und dem einst gewählten Partner*In und Realitäten anzuerkennen. Auch das ist eine Form von Liebe.

 

Und er setzt eine die Fähigkeit voraus, Anfänge und Enden zu reflektieren, das heißt benennen zu können und damit bewusstseinsmäßig verarbeiten zu können. Insbesondere wenn eine Entscheidung für Familienzuwachs und neues Leben entstanden ist.

 

 

Und noch viel schwieriger als über den Anfang neuen Lebens zu entscheiden, ist wahrscheinlich die Entscheidung über dessen Ende. Die neueren Diskussionen über Sterbehilfe diskutieren die Rechtfertigungsbedürftigkeit eines selbstbestimmten Überganges in den Tod und verbinden dies mit dem Begriff der Menschenwürde.  Und so könnte Menschenwürde in diesem Zusammenhang aber auch bedeuten, als schwer erkrankter Mensch nicht dahin siechen zu müssen, sondern als ein vernunftbegabtes Wesen in Würde – und das hieße auch: zum selbst bestimmten Zeitpunkt – gehen  zu können.

 

Da geht es besonders um die Frage, ob nicht jeder Mensch ein Recht hat, sein Leben selbstbestimmt loslassen zu dürfen, wenn er „satt“ ist und seine Existenz nur noch als schmerzhaft und sinnlos erfährt. Wie es meiner Meinung nach auch für Trennungen gilt.

 

 

Beim Thema Übergänge spüre ich besonders wie „in das Leben hinein“ und wieder „hinausgehen“ zusammenhängt: Der letzte Übergang ist ein Übergang ins Ungewisse ebenso wie der erste. Alles hängt mit allem zusammen.

 

 

Ich persönlich zelebriere Abschiede und gehe bewusst in Neues und schaffe mir Rituale dafür – das hat sich für mich persönlich bewährt. Alles ergibt sich nach meiner Erfahrung, wie eine natürliche Ordnung, die die richtigen Schritte zur richtigen Zeit einleitet - wenn wir aufmerksam dafür sind. Denn viel häufiger werden wir von den Übergängen bestimmt, als dass wir sie bestimmen könnten. Die Wahlfreiheit damit ist unser Umgang.

 

 

 

Ich hoffe auf ein gutes Jahr 2021 – in dem so hoffe ich, Menschlichkeit wieder mehr Stellenwert erhält, Menschen bewusst miteinander und sich selbst umgehen und trotz des großen Grenzgangs in eine neue Lebensrealität wir alle miteinander Verantwortung tragen und trotzdem leben und lieben.

 

 

Jetzt ist aus meinem Jahres-Abschiedstext ein kleiner Nachruf geworden – aber so sind sie halt manchmal, diese Übergänge...