Authentisch leben auf Distanz

 

Corona ist (wieder) da!  Nach 1,5 Jahren disziplinarischer Hygienemaßnahmen, Abstand, geminderten Sozialkontakten und solidarischem Verhalten mit Augenmaß – durften wir zwischendrin wieder einige kleine Freiheiten genießen.

Ich wähnte mich, doppelt geeimpft, in Sicherheit bis die inneren Dämme brachen und damit das Virus in mein Zuhause einfiel. 

 

In meiner Familie hat es zunächst eine Person „erwischt“.  Das Wochenende begann und die innere Beklemmung stieg an. Wir begaben uns als komplette Familie freiwillig in Quarantäne, ich informierte alle Kontakte und auch Klient*Innen, dass ich als Überträgerin in Frage käme. Auch wenn das Gesundheitsamt mir zusprach als geimpfte, symptomfreie Person nicht in Quarantäne zu müssen – ich konnte nicht gegen mein Wertempfinden entscheiden. Mein am Montag folgender PCR-Test war negativ, ich weiter symptomfrei und da ich sehr wundergläubig bin, dachte ich mir, dass ich schon nichts bekommen würde.*

 

Die Sorge um meine Lieben, gemixt mit der bitteren Pille der Akzeptanz" schluckte" ich die Situation schweren Herzens. Nach dem Prozess der Annahme, der Situation ging ich, wie es für mich typisch ist, in die proaktive Bewältigung. Es wurde desinfiziert, gekocht, Kinder versorgt und mit der Information der letzten Kontaktpersonen ("Du, ich muss dir leider sagen, dass wir Corona im Haushalt haben"-Nachrichten waren mir sehr unangenehm). Teilweise war ich überrascht von angstvollen und sogar vorwurfsvollen Reaktionen und gleichzeitig überrollte uns eine Welle des Mitgefühls. Wir bekamen sofort Hilfsangebote, Mitgefühl und Wärme von Freunden, Familie und Nachbarn, die unsere Quarantäne unterstützten und umsorgten, einkauften, Essen vor unsere Tür stellten, täglich nachfragten. Das Selbstverständnis im Herdenschutz darin berührte mich sehr.

 

In Situationen, in denen ich mich nicht sofort zurecht finden kann, hilft mir der Ausdruck, das Teilen meiner Gedanken und Gefühle sehr. Ich rufe Freunde an, schreibe Messenger-Nachrichten und bekomme meistens mitfühlende Antworten.
Und so schrieb ich auch meinem guten, langjährigen Freund Holgi. Wir leben in unterschiedlichen Städten und kennen uns seit Kindertagen, nehmen Anteil an unseren Leben - auf Entfernung. Er ist ein beständiger Freund und arbeitet im wissenschaftlichen Bereich.
Er kriegt einschneidende Lebensthemen von mir berichtet und hat schon viele Turbolenzen und Wendepunkte in meinem Leben miterlebt.

 

Ich berichtete ihm per Messenger, dass wir von Corona "erwischt" wurden. Ich meinte ganz sicher zu sein, da er mich gefühlt ewig kennt, dass er weiß, ich kann Zuspruch gebrauchen, ein bisschen „jammern dürfen“ im geschützten Raum würde sicher drin sein. Das macht so langjährige Verbindung für mich aus: Schutz und Vertrauen. Ein bisschen Jammern dürfen, um mich schlussendlich aufzurappeln und entschieden durch zu gehen – eine mir vertraute Strategie.
Umso geschockter war ich, als ich kurz darauf die Antwort las "Es frisst sich durch" untermalt mit einem Wurm-Emoji.
Diese Worte ließen mich innerlich kurz erstarren. So abgeklärt, so distanziert – da traf mich ein unangenehmer Schauer über den ganzen Körper. Ja, klar! hatte er faktisch Recht. Doch was ich suchte war menschlicher Kontakt. Und er schob nach "Würde außer einer Person niemand was bemerken, wär´s die größte Überraschung. Also nahezu vorhersehbar."
Wütend legte ich das Handy beiseite. Statt Verbindung bekam ich meine Hilflosigkeit in voller Breitseite vor Augen geführt. "Ich antworte morgen" murmelte ich zu mir selbst und ging wütend ins Bett. Die selbstverordnete Pause wollte mich resignieren lassen, dieser aufregende Tag hatte an meinen Nerven gezerrt. Garantiert hätte ich das früher sehr viel persönlicher genommen, mich unverstanden und ungesehen gefühlt. Aber nun konnte ich das in mir ausgelöste Gefühl in der Schwebe halten und beobachten.

Am nächsten Morgen fiel mir auf, dass da ein Anteil der Person geantwortet hat, die ich sehr schätze, aber nicht die Person selbst. Der Anteil eines Wissenschaftlers, der klug und wissbegierig ist und der mich auf hohem Niveau informiert. Mein Verstand hat Freude in langen Gesprächen mit ihm. Die Nachtruhe hatte meine aufgewühlten Gefühlswogen geglättet und ich war entschlossen zu antworten und zwar aus meinem Bedürfnis heraus, das sich nicht logisch besänftigen ließ. Gepaart mit dem Wunsch nach Klärung schnappte ich mir mein Handy: "Hallooo?! Ist mein Freund Holgi da? Dem hab ich nämlich grad geschrieben, dass ein Teil meiner Familie Corona hat... Ich suchte zwischenmenschlichen Kontakt und Trost. Komischerweise hat ein sachlicher Wissenschaftler mir distanziert geantwortet. Irgendwas muss da schief gelaufen sein. 😮"

Ich wollte meinem Bedürfnis nach Kontakt Raum geben. Ich spürte meinen Gefühlen nach und ging mit ihnen in Kontakt. Das war mein Part der Geschichte und gleichzeitig sah ich meinen Freund Holgi und seine Antworten, die nicht zu unserer Freundschaft passten und mir aufzeigten, dass die Pandemie auch mit ihm etwas gemacht hatte. Ich spürte die Distanz und Abweisung in seinen Worten und wollte sie unbedingt verkleinern, es passte nicht zu meinem Gefühl ihm gegenüber. Kognitive Dissonanz.

 


Und anstatt aus gekränktem Stolz zu reagieren, entschied ich mich aus echtem (Mit-)Gefühl, für ihn und für mich zu agieren. Erst einmal war ich extrem befreit, für mich eingestanden zu haben: für mein Bauchgefühl, für meine Grenzen und für die Freundschaft - für das was mir wichtig ist!

 


Und er reagierte! Morgens um 8 Uhr klingelte mein Telefon und wir waren in Verbindung. Wir sprachen miteinander! Darüber was gerade an stand und darüber was gerade um uns und mit uns passiert war. Darüber was unser gegenwärtiges Erleben anbot. Es war ein schöner Austausch und ich fühlte mich verbunden. Covid 19 trennt und verbindet gleichzeitig.

 

Es steht nicht in unserer Macht, ob es existiert. Wir können aber wählen, wie wir diese Zeit mit Covid gestalten wollen. Meine Wahl lautet, ganz entgegen anderer Haltungen achtsam und mit Gefühl – trotzdem oder erst recht!

 

 

 

 

 

*Nachbemerkung: auch ich hatte mich einige Tage später angesteckt. Ich bin von mehreren Menschen gefragt worden, ob ich nicht darüber etwas schreiben könnte. Es gibt so wenige Erkenntnisse und Informationen von Impfdurchbrüchen und daher habe ich mich entschieden über meinen Umgang und Verlauf der Erkrankung zu schreiben. Ich bin erst seit kurzem Genesen und möchte noch ein wenig Zeit vergehen lassen. In Zukunft könnte es aber einen Blog-Artikel darüber geben ;-)